"Mehr Pariser Flair in Baden-Württemberg"

Welche Lösungen der Wohnraum-Allianz beschleunigen und vereinfachen den Wohnungsbau? Vertreter von rund 35 kommunalen Wohnungsunternehmen diskutierten hierüber am 15. Juni in Tübingen mit den wohnungspolitischen Sprechern der Landtagsfraktionen und Oberbürgermeister Boris Palmer.

Die kommunalen Wohnungsunternehmen leisten in Baden-Württemberg einen wichtigen Beitrag zur Wohnraumversorgung der Bürger. "Sie tragen damit zur Attraktivität unseres Landes bei - die Wohnraumversorgung ist ein echter Standortfaktor", so Joachim Walter, Landrat des Landkreises Tübingen und Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg in seiner Begrüßungsrede. "Das Thema des bezahlbaren Wohnraums ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen und beschäftigt nicht mehr nur Niedriglohn-Empfänger."

88.000 Wohnungen fehlen
Tobias Koch, Principal der Prognos AG, stellte vor der Diskussion die Ergebnisse der Studie "Wohnraumbedarf in Baden-Württemberg" vor. Baden-Württemberg hat zwischen 2011 und 2016 die höchste relative Bevölkerungszunahme unter allen Flächenländern in Deutschland. Über 80 Prozent der Gemeinden haben einen deutlichen Zuwachs, und mittlerweile besteht eine Wohnungsbaulücke von 88.000 Wohneinheiten. Er warnt: "Baden-Württemberg ist im achten, neunten Jahr einer Hochkonjunktur. Das Wachstum der Firmen lässt sich nur noch durch Zuzug generieren. Es ist ein Bremsklotz, dass die angespannten Arbeitsmärkte mit den angespannten Wohnungsmärkten zusammenfallen."

Paradigmenwechsel erforderlich
Die Wohnraum-Allianz unter Führung des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg greift die richtigen Themen auf. Darüber sind sich die wohnungspolitischen Sprecher Susanne Bay (Bündnis 90/Die Grünen), Tobias Wald (CDU), Daniel Born (SPD) und Gabriele Reich-Gutjahr (FDP) sowie Oberbürgermeister Boris Palmer, Tobias Koch und Markus Müller (Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg) einig. Unisono sprechen sie sich für eine zügige Umsetzung der Ergebnisse und einen Abbau der landesrechtlichen Vorgaben aus.

Peter Bresinski, Vorsitzender der Vereinigung baden-württembergischer kommunaler Wohnungsunternehmen (KoWo) und des vbw Verband baden-württembergischer Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V., fasst dies aus Sicht der kommunalen Wohnungsunternehmen zusammen: "Manche Themen erfordern nicht nur ein Herumschrauben an Symptomen, sondern einen radikaleren Schritt, einen Paradigmenwechsel." Den Ankündigungen müssten Taten folgen, und die verantwortungsbewussten Marktakteure wie die kommunalen Wohnungsunternehmen müssten bei ihren Bemühungen für eine Entspannung des Wohnungsmarktes eine stärkere Unterstützung erfahren. "Über weitere ordnungsrechtliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit bekommen wir die Preise nicht nennenswert in den Griff. Das funktioniert nur über ein ausreichendes Angebot an bezahlbaren Wohnungen. Und dafür bedarf es einer wirksamen Förderung, beispielsweise über verbilligte Erbbaurechte, günstige Darlehen, Zuschüsse aus laufenden öffentlichen Haushalten oder revolvierenden Fonds."

Gigantische Herausforderungen und Pariser Flair
Für den Abbau von Vorschriften spricht sich Boris Palmer aus: "Es macht mich wahnsinnig, was wir in Deutschland an Sicherheitsvorschriften haben." Als Beispiel nennt er eine Verschärfung der Erdbebennorm, was in Tübingen zu einer zehnprozentigen Steigerung der Baukosten führen würde. Er kritisiert den marktwirtschaftlichen Tunnelblick, durch den vielfach noch nicht bemerkt würde, was eigentlich falsch läuft: "Wir ergreifen keinerlei Maßnahmen, die ausreichend sind angesichts der gigantischen Herausforderungen, vor denen wir stehen!" Boris Palmer plädiert für eine drastische Erhöhung des landeseigenen Wohneigentums und die Gründung einer Landeswohnungsbaugesellschaft. Das Vorbild sei Wien, wo über die Hälfte der Mietwohnungen der Stadt oder gemeinnützigen Immobilienfirmen gehören.

Außerdem fordert er eine effektive Mietpreisbremse. Die Preiserhöhungen im Bestand müssten gestoppt werden. Aus seiner Sicht braucht es zudem rechtliche Instrumente, die über den kommunalen Grundbesitz hinausgehen. In Tübingen will er Baugebote erlassen. Es gäbe über 500 baureife Grundstücke, auf denen teils seit 20 Jahren nichts passiert sei. Es könne nicht sein, dass Leute Grundstücke für ihre Enkel reservieren, obwohl sie nicht einmal Kinder hätten. Er geht davon aus, dass das Wohnungsproblem mit vereinten Anstrengungen innerhalb eines Jahrzehnts zu lösen ist. "Ich wünsche mir, dass die Städte urbaner aussehen. Mehr Pariser Flair in Baden-Württemberg! Die Städte müssen dichter werden und mehr Lebensraum bieten: mehr Platz für Kinder, weniger für Autos."

Freiheiten für die Kommunen
Susanne Bay bemängelt den fehlenden Einsatz der privaten Vermieter für bezahlbaren Wohnraum, da die kommunalen Unternehmen und Genossenschaften das Problem allein nicht lösen könnten. "Wir müssen alte Wege verlassen und über den Horizont denken. So kann man Parkplätze überbauen mit Gebäuden in Holzständerbauweise. Der Geschosswohnungsbau ist nicht mehr böse; er muss qualitätsvoll angegangen werden. Wenn Kommunen Boden kaufen, haben sie bei der Planung den Hut auf, auch, was die Verdichtung angeht." Zudem müsse der Bund Themen wie Mietrecht, Zweckentfremdung, Steuerrecht und Abschreibung angehen.

Thomas Wald möchte die Wohnraum-Allianz als dauernde Aufgabe fortführen. "Das Land sollte möglichst schlanke Verordnungen erlassen und den Kommunen viel Freiheit geben. Vor Ort kennt man sich besser aus mit Stellplätzen als in Stuttgart." Eine Landesentwicklungsgesellschaft hält er nicht für notwendig: "Wir haben kommunale Wohnungsunternehmen und Genossenschaften. Sie würden liebend gerne bauen, wenn es genügend Bauflächen gäbe und die Genehmigungen schneller gingen." Noch mehr Grundstücke müssten für den sozialen Wohnungsbau unter Marktpreis verkauft werden. Ziel müsse es sein, Stadt und ländlichen Raum in Baden-Württemberg gleichsam zu entwickeln und nach vorne zu bringen. "Wir sind auf einem guten Weg, brauchen aber zehn Jahre, bis wir aufgeholt haben, was in der Vergangenheit versäumt worden ist."

Marktversagen und Staatsversagen
"Die Idee von einem völlig freien Markt, der das alles richtet, hat versagt", so Daniel Born. "Wir müssen gegensteuern, und auch das Land muss mit einer Entwicklungsgesellschaft seine Verantwortung übernehmen." Öffentliche Unternehmen seien gute Partner, und das öffentliche Segment könne mit einem weiteren Partner gestärkt werden. "Wir brauchen Modelle, mit denen uns eine Durchmischung gelingt und passender Wohnraum für die Lebensphasen geschaffen wird. Wenn wir heute über Verdichtung reden, sprechen wir darüber, wie unsere Städte einmal ausgesehen haben. Früher hat man stärker aufeinander gelebt! Es ist kein Zukunftsmodell, dass alle auf der grünen Wiese wohnen, weil man dort noch das Haus abbezahlen kann. Der Geschosswohnungsbau muss attraktiver werden, und es müssen mehr Flächen hierfür zur Verfügung gestellt werden."

"Wir haben ein Staatsversagen im gleichen Maße wie ein Marktversagen. Was der Staat vorlegt, funktioniert so nicht für die Wirtschaft", sagt Gabriele Reich-Gutjahr. "Der Staat zieht sich immer mehr Schuhe an; kein Wunder, dass die Bürger unzufrieden sind und immer mehr haben wollen." Sie fordert deshalb, die Vorschriften zu reduzieren um all das, was auf Landesebene nicht geregelt werden muss. "Wenn die Kommunen beim Thema Wohnen mehr Spielraum haben, kann man den Bürger auch miteinbeziehen." Sie hält strategisches Flächenmanagement, Baulückenkataster, interkommunale Zusammenarbeit und gute Architektur für notwendig. Baden-Württemberg wird aus ihrer Sicht in zehn Jahren bunter und subsidiärer sein.

Peter Bresinski: "Die kommunalen Wohnungsunternehmen bleiben dran. Wir wollen wie schon seit Jahrzehnten unseren Beitrag für qualitätsvolle und bezahlbare Wohnungen leisten - ohne permanent durch fehlende Baugrundstücke und komplizierte Verfahren mit mehr als 20.000 Bauvorschriften und Anforderungen darin behindert zu werden. Für uns ist es daher wichtig, dass den Ankündigungen der Wohnraum-Allianz nun bald Taten folgen."

Über die KoWo
In der Vereinigung baden-württembergischer kommunaler Wohnungsunternehmen, kurz KoWo, haben sich rund 60 kommunale und landkreisbezogene Wohnungsunternehmen zusammengeschlossen. Sie verwalten über 150.000 Mietwohnungen und gehören mit einem Investitionsvolumen von über 500 Millionen Euro zu den wichtigsten Auftraggebern der heimischen Bauwirtschaft. Ziel der seit 1990 bestehenden Vereinigung ist es, ihre spezifischen Interessen auf Landesebene zu vertreten und zu bündeln.

Webseite der KoWo: www.kowo-bw.de

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